Es war sechs Uhr morgens und ihr Wecker klingelte. Sie hatte Kopfschmerzen. Zu lange hatte sie am Abend zuvor noch an ihrem Schulprojekt gearbeitet. ,,Aber das war es wert‘‘, dachte sie bei sich, während sie sich anzog und ihr Smartphone ihren Lieblingssong spielte. Samiras Eltern machten in der Küche Frühstück fertig, beide mussten schon bald auf der Arbeit sein und hatten deshalb nicht viel Zeit. Ihre Mutter gab ihr schnell einen Kuss auf die Wange und verschwand zur Haustür hinaus.
Als Samira nach einer halben Stunde ebenfalls nach draußen ging, atmete sie tief ein und genoss die kühle Morgenluft. Bald würde die Sonne erbarmungslos ihre Hitzewellen zur Erde hinabstoßen. Samira mochte das Klima in ihrer Heimat nicht besonders, es war ihr viel zu heiß. Ihr größter Traum war es, später einmal in New York zu wohnen, dort war sie zum ersten Mal gewesen, als sie fünf Jahre alt war. Danach war ihr Vater mit ihr öfter dorthin gegangen.
Samira stieg in den Bus. Als dieser durch die Stadt fuhr, schaute sie aus dem Fenster. Sie sah die elektrischen Taxis die Straße entlangfahren und beobachtete die Radfahrer auf ihrer eigenen Straße. Sie sah auch viele Werbe-und Wahlplakate. Am nächsten Tag würde Samira zum ersten Mal wählen gehen, denn sie war vor vier Monaten sechzehn geworden.
Zum Beispiel eines auf dem ein Pärchen zu sehen war, eine Frau und eine Person, die offensichtlich non-binary war. Die Überschrift lautete: ,,Die Blaue – Wir sorgen dafür, dass es so bleibt‘‘.
Samira verstand sofort, worum es ging. Im Geschichtsunterricht hatte sie gelernt, dass die Welt früher sehr anders war, und die Menschen gezwungen waren so zu leben, wie sie geboren waren, ohne Möglichkeiten ihr Schicksal zu ändern. Gerade hier in Indien soll es besonders schlimm gewesen sein. Ihr schauderte bei dem Gedanken, sie könnte jetzt schon mit einem alten Mann verheiratet sein und drei Kinder haben. ,,Zum Glück ist die Vergangenheit vergangen‘‘, dachte sie.
Sie kam an der Schule an und sah gleich ihren Freund Nuran im Schulhof mit anderen Klassenkameraden Fußball spielen. Sie winkte sie ihm zu und ging weiter, um sich unter einen der Bäume zu setzen. Samira dachte nach. Sie war ein wenig nervös wegen ihrer Präsentation, die sie in der ersten Stunde halten musste, wusste aber auch dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte.
Nach der Schule schlenderte Samira zur Bushaltestelle. Die Präsentation war super gelaufen. Die Pause hatte sie mit Nuran verbracht, sie war unglaublich froh mit ihm zusammen zu sein. Trotzdem störte sie irgendetwas. Seit einigen Wochen war Samira sehr nachdenklich geworden. Es hatte etwas mit dem Geschichtsunterricht zu tun. Und als sie dann im Bus saß fiel es ihr ein: Sie hatte Angst, große Angst. Sie wollte nicht daran denken, aber immer wieder fielen ihr die Bilder ein, die im Buch zu sehen waren. Sklaverei. Frauen, die, obwohl sie gleich viel arbeiten, weniger Geld bekommen als Männer. Behinderte Leute, die ermordet werden. Hungernde Kinder. Aber was sie am aller schrecklichsten daran fand, waren die Reichen. Leute, die wussten, wie es anderen geht und trotzdem nichts daran ändern wollten, weil sie Angst hatten sonst nicht mehr mit ihrer Yacht fahren zu können. Ihr kam das Wahlplakat vom Morgen in den Sinn: War das Leben, das sie jetzt führten, in Gefahr? Wollten die anderen Parteien womöglich zu dieser schlimmen Zeit zurück? Samira musste mit jemandem sprechen. Also rief sie zu Hause ihre Mutter an, doch die hatte keine Zeit, sie musste in ein Meeting. Samira ging in den Garten und setzte sich auf eine Sonnenliege. Sie musste also warten, bis ihre Eltern wiederkämen. Ihr Vater war Koch und hatte sicher noch weniger Zeit als ihre Mutter. Als sie dort saß, die Sonne auf ihr Gesicht scheinend, aber von dunklen Gedanken umgeben, trat ihr Nachbar ebenfalls hinaus in den Garten. Dieser war ein älterer Herr, der sehr freundlich und gesprächsbereit war.
Samira stellte ihm also diese Fragen, die ihr auf der Seele brannten und der Nachbar meinte: ,,Keine Angst Samira! Wie leben in einer Utopie, das ist eine perfekte Welt. Sie kann sich nicht einfach zurückverwandeln.‘‘
Samira starrte ihn verdutzt an. ,,Pass auf, du bist doch alt genug zum Wählen. Meine Urgroßvater hat diese Zeiten noch erlebt und sein wichtigster Tipp, wenn man solche Ängste bekam, war, man solle wählen gehen.‘‘
Samira verstand nicht ganz was er meinte. Sie war seltsamerweise beruhigt. Als ihre Eltern von der Arbeit wiederkamen, fuhren sie gemeinsam zum Wahllokal. Samira war sich noch immer unsicher, aber als die den Zettel in der Hand hielt, wusste sie, wen sie wählen würde. Und sie wusste noch etwas: Mit diesem Zettel hielt sie eine sehr wichtige Macht in der Hand. Die Macht, die Demokratie zu wahren, denn das war es, was der Nachbar ihr hatte sagen wollen. An diesem Abend schlief Samira schnell ein. Sie fühlte sich gut.
Nela B. (16 Jahre) im Juni 2021
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