Wie der Freitag zum Feiertag wurde

Jakob Simon, Juli 2035

Es ist 2035, seit zehn Jahren ist jeder Freitag frei. Ein wunderbares Jubiläum, oder? Wagen wir einen Blick zurück. Wie ist es dazu gekommen?

Die Jüngeren unter euch können sich gar nicht mehr daran erinnern: Früher war der Freitag ein ganz normaler Werktag, alle sind arbeiten gegangen sind oder mussten zur Schule gehen. Obwohl der Tag schon damals „Freitag“ hieß. Die Älteren können noch ein Lied davon singen: Wie ausgepowert wir uns in ein viel zu kurzes Wochenende gestürzt haben. Ab Sonntagmittag dachten wir schon wieder schweren Herzens an den unausweichlichen Montagmorgen! Ein endloses Hamsterrad, das uns fast blind und taub gemacht hat für das größte Problem der Menschheit: die drohende Klimakatastrophe.

2019 begannen die Schulstreiks. Schülerinnen und Schüler sind auf die Straße gegangen, anstatt zur Schule zu gehen. Warum auch lernen für einen tollen Job, wenn gerade der Planet zerstört wird? Darin lag keine Logik mehr. Immer mehr Erwachsenen schlossen sich den Protesten an. So wurde das Thema zwar bekannt. Es wurde darüber geredet, diskutiert, gestritten, aber leider nicht gehandelt.

2020 erlebten wir eine weltweite Pandemie. Danach war die Welt eine andere, was wir am Anfang gar nicht merkten. Im Gegenteil: Alle wollten zuerst möglichst schnell zurück in die „Normalität“, in die gewohnte „Konsum- und Spaß-Gesellschaft“.

Erst Anfang 2022 dämmerte uns langsam, was sich verändert hatte: Etwas in uns hatte sich verändert! Wir hatten in der Pandemie ganz nebenbei mehr gelernt, als uns bewusst gewesen war.  Uns war plötzlich klar: Es gab keine Normalität mehr. Die Pandemiekrise war nur der kleine Teil einer viel größeren Krise. Gleichzeitig hatten wir erfahren: Veränderung ist möglich und zwar – wenn es nötig ist – auch von heute auf morgen! Darin entdeckten wir unsere Chance: wir konnten unser Leben verändern. Wir konnten die größte Katastrophe für Menschheit, Tierwelt und Natur abwenden. Was für eine großartige Erkenntnis: wir brauchten den ganzen Mist, den man uns als unentbehrlich suggeriert hatte, gar nicht! Nicht nach immer bunteren und vielfältigeren Konsumprodukten sehnten wir uns, sondern nach etwas ganz anderem: Wir brauchten und brauchen Natur. Wir brauchten und brauchen Zeit. Wir brauchen einander.

Die eigentliche Protestwelle rollte dann 2022 an. Die neue Regierung brauchte endlos lange für die Koalitionsverhandlungen und die Regierungsbildung. Sie brauchten so lange, dass wir darüber fast vergaßen, wen wir 2021 eigentlich gewählt hatten. Schließlich einigten sich die Regierungsparteien in ihrer feierlich präsentierten Regierungserklärung auf einen einzigen Satz: Wir machen so weiter wie bisher, bloß ein bisschen anders. Dazu kamen noch ein paar nichtssagende Worthülsen, die sich über dreihundert Seiten erstreckten.

Dieser Koalitionsvertrag brachte das Fass zum Überlaufen: Nun hatten vor allem die jungen Menschen endgültig die Schnauze voll. Sie beschlossen, jeden Freitag die Schule zu bestreiken. Geschäfte und Unternehmen schlossen sich an, stellten ihre Mitarbeiterschaft frei. Statt Demo-Zügen und Kundgebungen wurden neue Formate des gemeinsamen Protestes geschaffen.

Vielleicht erinnert ihr euch noch an die ersten großen Tauschmärkte, an die ersten Klima-Ausflüge für ältere Menschen. Wer denkt nicht gerne zurück an die vielen Kleinkunst-Bühnen auf Dorfplätzen und in Innenstädten?
Es gab keinen Freitag ohne Musik, Spontan-Theater, politisches Kabarett. Neben Diskussionsrunden, Ausstellungen und Recycling-Workshops wurden Rezepte, Bücher und Gemüse-Samen verschenkt, Spielaktionen für Kinder angeboten, Fahrräder geflickt, Hochbeete angelegt. Es war eine Aufbruchstimmung und eine explosive Kreativität an diesen Freitagen, die uns alle mitriss. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ein Vormittag in der Schule könnte lehrreicher, ein Tag im Betrieb produktiver sein.

Als die nach wenigen Monaten restlos zerstrittene Regierung Neuwahlen anbot, lehnten wir ab. Nein, nicht noch einmal diese sinnlose Eigenwerbung auf unsere Kosten. Nein, bitte keine gut gestylten maskenhaften Gesichter austauschbarer Selbstdarsteller mehr auf riesigen Plakaten! Was für eine Verschwendung von Ressourcen.

Statt einen neuen Wahlkampf finanzierten wir von dem Geld lieber dauerhaft den Bürgerrat, der 2021 gebildet worden war. Mit einem ausgeklügelten Rotationsprinzip hatten wir dadurch ein unabhängiges Kontrollgremium. Es prüfte jede Entscheidung der Regierung auf ihre Auswirkung auf Klima und soziale Gerechtigkeit hin prüfte. Es konnte auch eigene Gesetzesinitiativen anstoßen. Da rauften die zerstrittenen Regierungsparteien sich notgedrungen zusammen. 2025 setzte der Bürgerrat den freien Freitag für alle durch. Damit einhergehend wurde die Vollzeit auf 24 Stunden pro Woche herabgesetzt – bei vollem Lohnausgleich.

Eine weitsichtige Entscheidung: Dadurch konnte die notwendige sozial-ökologische Transformation von Wirtschaft und Arbeitswelt ohne wachsende Arbeitslosigkeit umgesetzt werden. Die wichtigen Care-Berufe wurden wieder attraktiver. Die Menschen arbeiteten gesünder, engagierter und zufriedener, hatten mehr Zeit für Kinder, Angehörige, Nachbarschaft und Freundeskreis. Es gab plötzlich viel mehr Ehrenamtliche, lokale Initiativen und politisches Engagement.

Gemeinsam begannen wir, klimaneutral zu leben. Gerade noch rechtzeitig.

Inzwischen ist der freie Freitag für uns alle eine Selbstverständlichkeit geworden. Aber wir sollten ihn trotzdem weiterhin mit einer ganz besonderen Wertschätzung und Dankbarkeit betrachten. Er ist nicht einfach nur ein dritter Wochenend-Tag. Der Freitag sollte für uns alle „Klima-Tag“ bleiben. Wir gedenken an diesem Tag der Erde in ihrer Vielfalt und Schönheit, wir nutzen die Zeit zum Innehalten, um zu spüren, dass wir gemeinsam ein Teil dieser Vielfalt sind.

Jakob Simon, Juli 2035

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